Freitag, 8. Januar 2010

5. Gerechtigkeit und Partizipation

Gerechtigkeit hat einen direkten Bezug zu Partizipation. So fordert Gerhardt von den den politischen Akteuren, der Freiheit Raum zu geben und Chancengerechtigkeit zu gewähren und zu garantieren: „Alle müssen in den Genuss der Chancen kommen, die dem freien, aus sich selbst heraus tätigen Bürger zustehen“. (Gerhardt 2007: 348)

Von den Bürgern verlangt Gerhardt Eigeninitiative: Er will, dass „die Betroffenen den Kampf um die Anteile am gesellschaftlichen Einkommen selber führen können“ (348). Sie brauchen Rechte, um sich politisch zu artikulieren und zu vertreten. „Dazu gehört der uneingeschränkte Zugang zu allen Informationen und – mit Blick auf die knapper werdenden Ressourcen – die ausdrückliche Feststellung, dass kein Mensch aufgrund seiner Herkunft, seines Alters und seines Glaubens – auch nicht aufgrund seiner Lebenserwartung – benachteiligt werden darf“.

Gerhardt ist u.a. von John Rawls geprägt, einem der einflussreichsten Ethiker und Philosophen des Liberalismus im 20. Jahrhundert. Für Rawls ist Fairness die Grundlage der Gerechtigkeit. Ihn beunruhigt eine „entmutigte und deprimierte Unterschicht“, deren Angehörige „chronisch auf Fürsorge angewiesen sind“ und die „infolge eines tief sitzenden Gefühls der eigenen Ohnmacht längst aufgehört haben, aktiven Anteil an der öffentlichen politischen Kultur zu nehmen“ (Rawls 2003: 217).

Im Interesse einer umfassenden Partizipation der Bürger plädiert Rawls für das Gesellschaftsmodell einer „Eigentümer-Demokratie“, die nicht zulässt, dass „eine kleine Klasse beinahe ein Monopol an den Produktionsmitteln besitzt“. Stattdessen soll es faire Eigentums- und Besitzverhältnisse für alle geben, außerdem Geschlechtergerechtigkeit und Chancengleichheit in den Bereichen Gesundheit, Erziehung und Ausbildung. Der Zugang zu den Produktionsmitteln spielt für Rawls ebenfalls eine wichtige Rolle. Ihm geht es darum, dass von Anfang an genügend Produktionsmittel "in die Hände aller Bürger gelegt werden, so dass sie als Gleiche voll kooperierende Angehörige der Gesellschaft sein können“ (2003: 216).

Damit die Bürger in der Lage sind, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln, brauchen sie in der Eigentümer-Demokratie nicht nur Kapital und fairen Zugang zu den Produktionsmitteln, sondern auch „Wissen und Kenntnis der Institutionen, Bildung und geschulte Fertigkeiten.“ Nur so könne generationenübergreifend „Hintergrund- und Verfahrensgerechtigkeit“ realisiert werden. Die Bürger sollen in der Lage sein, „ihre eigenen Angelegenheiten mit einem angebrachten Maß an sozialer und ökonomischer Gleichheit“ zu regeln. Demnach gehören Partizipation und Gerechtigkeit zusammen. Ziel soll es sein, sich „von der Regierungskontrolle und der Macht der Bürokratie unabhängig zu machen. Dadurch sollen die Verhältnisse der beratschlagenden Demokratie verbessert und Vorbereitungen für den öffentlichen Vernunftgebrauch getroffen wer-den – ein Ziel, das ... der Konzeption der Gerechtigkeit als Fairneß und dem bürgerlichen Republikanismus gemeinsam ist“.

Dem gleichen Thema widmet sich auch der Moralphilosoph Bormann. Er lehnt Rawls' Theorie der Produktivkräfte und des Grundbesitzes allerdings ab. Stattdessen plädiert er für eine Politik der Gerechtigkeit, die der katholischen Soziallehre verpflichtet ist und auf umfassende soziale, ökonomische und kulturelle Entwicklung sowie auf Teilhabe und Partizipation setzt. Demnach stünde Rawls für „Verteilungsgerechtigkeit“, während die katholische Soziallehre für eine umfassende „Gemeinwohlgerechtigkeit“ eintrete.

Im Ergebnis plädieren Rawls und Bormann für eine gerechtere Gesellschaft und eine reformierte Politik. Sowohl Rawls als auch Bormann setzen auf „einen Primat der Eigenverantwortung vor der wohlfahrtsstaatlichen Versorgung“, dabei müssten die Bürger Mitwirkungs- und Teilhaberrechte haben.

„Partizipation und Gerechtigkeit“ stehen auch im Mittelpunkt einer sozialpolitischen Diskussion in Österreich, deren Essenz von Christine Stelzer-Orthofer und Josef Weidenholzer pubkiziert wurde. Dabei setzen sich die Autoren mit Fragen zur Globalisierung, zur Emanzipation, Gesundheitswesen, Bildung, Rechtsextremismus, Chancengleichheit, Behinderung und Armut ausein-ander. Das macht die Vielzahl der Politikfelder und -ebenen deutlich, auf denen Partizipation und Gerechtigkeit eine Rolle spielen. In nahezu allen Fällen geht es um die Gewährung von Mitwirkungs- und Teilhabe(r)-Rechten, um Chancengerechtigkeit und Integration. Wesentlich ist auch die wirksame Repräsentation im öffentlichen Raum der Politik. Die Bürger müssen ihrerseits an der Gesellschaft, der Demokratie mitwirken wollen. Damit stärke Partizipation die Legitimation politischer Entscheidungen und letztlich die Demokratie.

Der Soziologe Atteslander siedelt seine Überprüfung von Partizipation und Gerechtigkeit im „Spannungsfeld von Globalisierung und lokaler Kultur“ an. Das ist ein hoch aktueller Ansatz, da sich auch in Deutschland eine „gefühlte Ungerechtigkeit“ als Folge der Globalisierung breit macht. Dabei steht Globalisierung für komplexe und sehr dynamische weltweite Entwicklungen und Prozesse, die mit Schatten und Chancen verbunden sind. Atteslander bemerkt, insbesondere die Überwindung nationaler oder regionaler Märkte, die lange autonom oder geschützt waren, die weltweit vernetzten, informationstechnisch gesteuerten Finanzkapitalsysteme, die Öffnung von Güter- und Dienstleistungsmärkten für Mitbewerber aus Niedriglohnländern sowie zunehmende politische und kulturelle Interdependenzen vorher nicht gekannten Ausmaßes hätten die Grundlagen von Wirtschaft, Arbeit, Politik und Kultur verändert. Im Gefolge der Globalisierung hätten Privatisierung und eine z.T. ungesteuerte Deregulierung massive Veränderungen auf Makro-, Meso- und lokaler Ebene bewirkt. Diese globalen Entwicklungen würden lokal als „Bedrohung sozialer Strukturen“ erlebt. Zu den Folgen zählt Atteslander kulturelle Abgrenzungsversuche, eine teilweise Fundamentalisierung der Betroffenen, insbesondere dann, wenn sie ihre kulturellen oder moralischen Normen bedroht sehen, sowie Anzeichen von Anomien.

Atteslander setzt den Hebel auf der lokalen Ebene an, weil die Menschen in ihrem direkten Lebensumfeld stärker teilnähmen an der Gesellschaft und ihren Aktivitäten und letztlich davon profitierten. Lokal macht diese Bürgerbeteiligung auch Sinn, denn: „Partizipation geschieht primär in lokalen Kulturen. Es setzt soziales Lernen und durchlässige Herrschaftsstrukturen voraus. Partizipation heißt Möglichkeit akti-ven Handelns von Individuen.“

Als Musterbeispiel eines partizipativen Entwicklungsprojekts für mehr Gerechtigkeit hat Atteslander das Sozialhilfeprogramm „Oportunidades“ (= Chancen) in Mexiko parat. Mit einem Betrag von umgerechnet 100 Euro aus dem „Oportunidades“-Programm kann das Haushaltseinkommen einer Familie verdoppelt werden. Voraussetzung ist die aktive Mitarbeit im Sinne aktiver Partizipation, mit der auch Sozialkapital generiert wird. Ähnlichkeiten zu Konzepten wie dem „aktivierenden Staat“ sind nicht zu übersehen.

Wichtigstes Ergebnis dieser Studien ist, dass Partizipation nur dann erfolgreich sein kann, wenn Fairness und Gerechtigkeit für alle Beteiligten gegeben ist und nicht nur für eine kleine Gruppe Privilegierter. Nur wenn Bürger aller Schichten „als Gleiche voll kooperierende Angehörige der Gesellschaft sein können“, wenn sie nicht entmutigt oder ohnmächtig sind, wenn sie Zugang zu Wissen, Informationen und Produktionsmitteln haben, wenn sie mitwirken und an Entscheidungen teilhaben dürfen, ist mit erfolgreichen Integrationsprozessen zu rechnen. Dann sind die Bürger nicht nur in der Lage, sondern in der Regel auch bereit, ihre eigenen Angelegenheiten selbst zu regeln.


Gerhardt, Wolfgang (2007): Gerechtigkeit als Prinzip.

(c) 2010 Armin König

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